Surreal, um wahr zu sein

Dramatisierung der Geschichte "Schach"

Sprecher: Es war Frühling, als der Baum beschloß, seine Wurzeln aus der Erde zu ziehen. Etwas unsicher noch machte er sich auf den Weg.

(Der Baum zieht seine Wurzel-Beine aus der Erde und beginnt, um sein Gleichgewicht kämpfend, zu laufen.)

Sprecher: So kam es, daß er erstmals die anderen Teile des Parkes besichtigen konnte: den Rosengarten, die Gewächshäuser und schließlich die Uferpromenade. Und so verging der Nachmittag.

(Es wird dunkel, ein Vollmond zieht auf.)

Sprecher: Die viele ungewohnte Bewegung hatte den Baum müde gemacht und er setzte sich auf eine Bank, nahe dem Schachbrett.

(Licht auf das Freiluftschach am vorderen Bühnenrand)

Sprecher: Verwundert stellte er fest, daß sich darauf nur eine einzige Figur befand.

Baum: Wer bist du?

König: Ich bin der König.

Baum: Und du bist hier ganz allein?

König: Ich habe gesiegt. Das war vielleicht eine Schlacht: e2-e4: Sg8-f6 ...

Baum: Schon gut. Ich verstehe nicht so viel von Schach.

König: Das habe ich mir gedacht.

(Der Baum erhebt sich von der Bank und stellt sich neben das Schachbrett.)

Baum: Darf ich mitspielen?

König: Bäume kommen beim Schach nicht vor.

Baum: Nun bilde dir mal nichts ein auf dein Spiel. Du kannst ja immer nur einen Schritt tun, und am Spielfeldrand ist Schluß für dich. Geh doch mal auf h9, du Angeber!

König: Auf h9 sagst du, auf h9.

(Das Schachfeld verlängert sich nach hinten über die gesamte Bühne.)

König (blickt auf die neuentstandene Fläche): Ah, siehst du. Komm, gehen wir.

(König und Baum gehen, immer abwechselnd einen Schritt machend, auf den Feldern in Richtung des hinteren Bühnenrandes.)

Sprecher: Und die beiden gingen den Feldern nach quer durch den Park. Und immer wenn der König einen Schritt getan hatte, wartete er auf den Baum, der nachzog. So bewegten sie sich langsam zur Küste hin und gingen den Strand entlang. Als der König h472 erreicht hatte, begann es langsam wieder Tag zu werden.

(Licht auf der Bühne, der Mond wird durch eine Sonne ersetzt.)

König: Ich kann überallhin laufen. Ich bin mehr als nur eine Figur.

Sprecher: Doch hatte das Tageslicht den Teppich von neuen Feldern aufgesogen. Und so stand der König wie früher in einem Quadrat von acht mal acht Feldern.

Baum: Was bleibt uns nun? Sicher werden sie uns schon vermissen.

König: Wieso, ich stehe doch in meinem Feld.

Baum: Kannst du schwimmen?

König: Aber sicher. Ich bin doch aus Holz.

Sprecher: Und die beiden gingen zum Strand hinunter, der Baum legte sich ins Wasser, und der König war der Kapitän.

(Am hinteren Bildrand)

Sprecher: In der Zwischenzeit trafen sich die alten Männer wieder am Schachbrett und suchten vergeblich nach dem König.

Spieler 1: Der wird doch nicht davongelaufen sein?

Spieler 2: Ach was, wo soll der hin sein? Ein König hat nur acht Felder.

Spieler 1: Und was machen wir jetzt? Ohne König hat es keinen Sinn zu spielen.

Spieler 2: Wir könnten einen Baum nehmen. Aber wenn der einmal Wurzeln geschlagen hat ...

Sprecher: Und vom Meer aus sahen der Baum und der König auf die traurigen Spieler.

König: Ich will wieder zurück. Ohne Felder bin ich kein König. Und du bist kein Baum ohne Erde.

Sprecher: Und die beiden kamen zurück an Land. Doch schon von weitem sahen sie die Spieler um das Schachbrett.

Spieler 1: Das war ein Glück, daß der König hier vorbeikam. Und er hatte sogar die richtige Farbe.

Spieler 2: Ja, ich wußte gar nicht, daß die so beweglich sind.

(Baum und König stehen neben dem Schachbrett und sehen eine Weile dem Spiel zu.)

König: Komm, laß uns noch eine kleine Runde drehen.

14.3.95

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