Es ist nicht schön, wenn einen in der S-Bahn Leute anstarren.

Ich vertiefe mich wieder in mein Buch, dann wird ein Platz frei, mir gegenüber, und die Frau setzt sich hin.

Sie wird um die 50 sein. Die Backenknochen schimmern durch ihre glatte Haut, sie trägt diese lieblose Strähnenfrisur, bei der jeder unwillkürlich beginnt, die einzelnen Haare zu zählen.

Woher kennt die mich, weil die so schaut?

Die Frau beginnt ein Gespräch mit dem blonden Mädchen neben ihr.

Was die beiden sagen, höre ich nicht. Mir fällt nur auf, wie die zwei beim Sprechen den Mund so weit aufmachen.

Es riecht nach Wachs.

Ich vertiefe mich wieder in mein Buch, da steht die Frau plötzlich auf und öffnet ungelenk das Fenster.

Über den Rand der Brille werfe ich ihr einen Blick zu und muß unwillkürlich den Kopf schütteln.

Mein Buch wird indes immer lebendiger. Ganze Bilderserien ziehen durch meinen Kopf, ich höre Stimmen, Gespräche, die Buchstaben auf dem Papier werden weich und strecken ihre Arme nach mir aus.

Auf einmal fliegt eine Silhouette an mir vorbei. Dicht neben meinem Ohr knallt es brutal.

Ein Mann (wo kam der her?) hat das Fenster hart zugestoßen – so gewaltsam – wie unter Schock starre ich ihn an. Mit kurzen Schritten rumpelt er zurück auf seinen Sitz.

Da fällt mein Blick auf die Frau. Sie hat sich nach ihm umgedreht.

Er nickt gebieterisch zu uns herüber, als wollte er sagen: So ist das.

Langsam wie eine Schildkröte dreht sich die Frau zurück. Die Augen sind aus ihrem Gesicht verschwunden. Mit dem Ellenbogen stützt sie den schweren Kopf auf die Sitzlehne, Daumen und Zeigefinger bohren sich in die fahle Wange und verzerren das Gesicht zu einer faltenlosen Grimasse.

Wie gelähmt beobachte ich die Szenerie.

Der Mann fuchtelt jetzt aufgeregt mit den Armen herum, zwei andere Männer lachen plötzlich und laut.

Ich versuche weiterzulesen, zwecklos.

Ich weiß, daß ich das Fenster wieder aufmachen muß, aber ich schaffe es einfach nicht.

8-12-91


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