La tendresse decisive

Essay über Fotografieren und Schreiben

München 1995

Gedanken zu Fotografie und Schreiben

Prolog

Die schreibende Avantgarde fühlt sich unverstanden. Der Markt verschmäht ihre Texte. Das vielfach propagierte Ende der Literatur im Nacken flüchtet sich der ambitionierte Jungautor in die Behauptung, er sei zu "schwierig" für eine konsumorientierte bürgerliche Leserschaft.

Die gekränkte Eitelkeit wird zum ästhetischen Programm: Erzählperspektiven fahren Karussell, Figuren werden nicht mehr entwickelt, Handlung ist, wenn überhaupt vorhanden, Nebensache, grammatikalische Sätze finden nicht statt.

Viele junge Autoren setzen Eindringlichkeit gleich mit Trivialität und flüchten sich ins Unverständliche,Un(be)greifbare und somit schließlich Uninteressante (lat. interesse = an einer Sache teilnehmen).

Dieser Denkansatz läßt sich widerlegen durch die Beschäftigung mit den Wirkungsformen derjenigen Kunstform, die als die eindringlichste und am direktesten vermittelnde gilt: durch Vergleich der Gesetze von Fotografieren und Schreiben.

Dieser Essay will Wege zeigen, um das Schreiben zu klären und zu entschlacken, ohne es zu banalisieren.

Der Entstehungsprozeß

Wie entsteht ein "gutes" Foto?

Henri Cartier-Bresson: An der Marne, 1938
Zunächst muß es gelingen, die Aussicht auf ein Foto auszuräumen sowie alle akademischen Regeln über Bord zu werfen:

Erst wer diesen Zustand erreicht hat, kann sich in der Folge darum bemühen, seinen Blick zielzurichten, so daß schließlich Bilder entstehen, in denen der Betrachter Liebe, Zärtlichkeit, Fragen fühlt.

Lee Straßberg nennt dies, bezogen auf die Arbeit des Schauspielers, "sinnliche Wahrnehmung".

Übertragen auf das Schreiben bedeutet das die Forderung, seinen Stoff genau zu kennen, in ihn hineinkriechen zu können.

Man sollte sich die Texte erst erschreiben; dann muß man nicht beschreiben und wird auch nichts zerschreiben.

Dann erst sollte man sich Gedanken über Struktur, Erzählperspektive etc. machen.

Wieviele Texte sind heute eine Aneinanderreihung von aus der Luft gegriffenen pseudorealen Bildblöcken.

Was wir dem schlechten Fotografen oder Schauspieler sofort ansehen, weigern wir uns, auch auf den Bereich der Literatur anzuwenden.

Der Fotografierende nimmt sich völlig zurück, um die direkte Verbindung zum Objekt herzustellen. Ebenso nimmt man nach dem Belichten den Film aus der Kamera, und niemand denkt an die Kamera, wenn er sich einen Negativstreifen oder einen Abzug anschaut.

Der Fotograf und die Kamera streben also danach, sich selbst aus dem Weg zu schaffen, den Blick freizumachen.

Oder, anders ausgedrückt:

Das Fotografieren zu thematisieren empfiehlt sich nur für jemanden, der fotografieren kann.

Wer will anderseits Texte lesen, in denen jemand schlecht beschreibt, warum er nicht mehr schreiben kann?

Passives Gestalten

Autobiographisches Schreiben bietet die Möglichkeit, das Verhältnis des Schreibenden zu seinem Thema zu relativieren, ja sogar zu verkehren.

Als Vergleich sei nicht etwa der Selbstauslöser genannt, sondern das Fotografiertwerden.

Die meisten Menschen lassen sich nicht gerne fotografieren.

Gefallen sie sich besser, wenn sie sich in (eigenen) Geschichten begegnen? Wohl kaum.

Woher kommt diese selbstquälerische Lust, sich vor anderen Menschen in Texten auszubreiten? Rein ichbezogene, "therapeutische" Texte sind ebenso uninteressant wie Fotoalben vom Urlaub fremder Leute.

Zurück zur Fotografie.

Auf den meisten Bildern haben wir die Augen zusammengekniffen - zuviel Sonne.

So stehen wir in Gruppen vor Klostermauern oder Orchideen, verlegen, geistlos.

Die Parallelen zu vielem, was geschrieben wird, sind offensichtlich.

Doch gibt es neben dem wohlmeinenden Chronisten-Dilettanten noch einen weiteren Typ Fotograf: den ambitionierten Heckenschützen.

Er fotografiert uns, wenn wir aus der Dusche kommen, die Gabel zum Mund führen oder die Vase vom Küchentisch stoßen.

Diese Fotos sind für den Fotografierenden enttäuschend, weil er den wahren Charakter der Person schon wieder nicht greifen konnte. Zumal das Objekt sein Vertrauen in die Situation verliert und sich in Zukunft vorsieht.

Ersparen wir dem Be-Schriebenen und dem Leser zu große Nähe und Detailfreude.

Die Grenze ist dieselbe wie die zwischen Erotik und Pornographie.
Körperlichkeit und sexuelle Detailfreude sind nicht zwangsläufig Kunst, auch wenn man beim Betrachter bzw. Leser Reaktionen hervorrufen kann.

Ein Künstler hat zumindest Respekt für die Objekte seiner Kunst zu empfinden.

Die Beziehung Objekt - Objektiv

Foto: Michael Bruchner
Wir neigen dazu, wenn wir fotografiert werden, uns zu zieren, was diese seltsamen Fratzen ergibt, die uns dazu bringen, die Fotos zu zerreissen.

Der Fotograf muß dieses Sich-Zieren überwinden, indem er zwischen Objekt und Objektiv schlichtet, Vertrauen aufbaut.

Wenn ihm das gelingt, wird er beim Betrachten des fertigen Bildes sagen können: Ja, so habe ich dich gesehen.

Und der Fotografierte wird sagen: Ja, so sehe ich mich.

Das Schreiben findet meist auf einer abstrakteren Ebene statt. Hier sind es nicht Menschen, die wiedererkannt werden, sondern Situationen, Gefühle, Orte (vgl. ganz Auge sein), was die Forderung nach Kompetenz des Schreibenden impliziert.

Manche Kameramomente sind so intensiv, daß man sich nicht getraut, zu fotografieren, aus Angst vor Ent- Täuschung. Ist das eine Frage der Technik oder der Unsicher-heit gegenüber der eigenen Wahrnehmung?

Das Großartige an Sprache ist, daß sie mit einer Metapher ganze Räume erzeugen kann, Bilder, die stimmen, die man gestochen scharf vor sich sieht.

Und was ist das Faszinierende an großformatigen Fotografien? Ihre Schärfe, die präziser ist als die des menschlichen Auges. Doch setzt diese Schärfe voraus, das Motiv erst einmal gesehen zu haben.

Wenn der passive Partner sich ziert, hilft es, eine als bewußt gestellt erkennbare Situation herzustellen, in der der passive Partner agieren kann, ohne sich auf sich selbst zu konzentrieren. Dabei ist er mehr er selbst als beim ungestell-ten Bild. Dies wäre das Motiv für die Groteske, aber auch die Fabel.

Das Verhältnis von Form und Inhalt

Bei Texten aus der Weimarer Klassik bleibt dem Leser oft ein schaler Nachgeschmack, da er hinter den geschliffenen Worten oft nicht die Bedeutung findet, die der Sprache angemessen wäre. Paradoxerweise haben gerade experimentelle Texte auch dieses Problem. Das Streben nach der Übereinstimmung von Form und Inhalt geht allzuoft zuungunsten des Inhalts.

Ähnlich verhält es sich mit handwerklich ausgefeilten Fotos.

Nehmen wir zum Beispiel Henri Cartier-Bresson, der beim Fotografieren den "moment decisive" den "entscheidenden Moment" suchte und meisterhaft fand.

Doch führt diese Meisterschaft oft zu einer Zweierbeziehung Bildsituation - Fotograf, die den Betrachter ausschließt.

Der Betrachter kann die hohe Qualität der Bilder erahnen oder intellektuell erschließen, aber sie sprechen nicht zu ihm.

Dafür müßte der Fotograf versuchen, eine "angoisse decisive" oder die "tendresse decisive" einzufangen.

Die "tendresse decisive" eines Objektes aufs Papier zu bannen - ein Gestaltungsvorschlag für Fotografen und Schreibende.

Weiterführende Texte und Hyperlinks:


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